Das vergessene Gesundheitswesen

By Fräulein Lama
1 comment

Es ist manchmal schon erstaunlich, wie schnell die Stimmung in der Politik kippen kann. Noch vor sechs Wochen forderten Politiker – und Politikerinnen den Lockdown und auch die Presse machte Druck. Mit bangen Blick sah man ins Nachbarland Italien. Plötzlich wurde allen klar, dass Coronavirus ist doch nicht nur eine Grippe, sondern eine ernsthafte Lungenerkrankung. Und es verbreitet sich rasend schnell. Einzelne Kantone warteten gar nicht erst auf den Bund, sondern schlossen von sich aus die Schulen. Als der Bundesrat am 13. März die Schulen schloss, aber die Läden und auch die Restaurants unter bestimmten Voraussetzungen offen hielt, gab es Kritik. Man verwies auf Österreich, in dem strengere Massnahmen ergriffen wurden. Wieder preschten einzelne Kantone vor. Sie gingen weiter als der Bund. Am 15. März schliesslich kam der Lockdown für die ganze Schweiz. Die Parteien stellten sich geeint hinter den Bundesrat. Kaum jemand kritisierte diesen Schritt, der im Angesicht der schnell steigenden Fallzahlen, unumgänglich geworden war.

Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Die Fallzahlen gehen zurück. Die Gefahr ist in den Hintergrund gerückt. Mit der Harmonie unter den Parteien ist es vorbei. Die SVP hat schon früh angefangen, einen Ausstiegsplan zu fordern und verwies auf die immensen wirtschaftlichen Schäden. Auch die Presse änderte den Ton. Man verlangte eine Lockerung der Massnahmen. Letzten Donnerstag wurden die Lockerungen vom Bundesrat skizziert und vorgestellt. Grossflächige Kritik brandete auf. Der BZ – Redaktor schrieb von einem „mutlosen Vorgehen“. Die SVP zeigte sich „entsetzt.“ Grundtenor: Die Lockerungen gehen zu wenig weit, man fährt die Wirtschaft an die Wand.

Klar ist: Der wirtschaftliche Schaden ist enorm. Klar ist: Existenzen werden zerstört. Klar ist auch: Im jetzigen System ernährt uns die Wirtschaft, deshalb kann man sie nicht ausser Acht lassen. Dennoch, wäre es falsch, jetzt wieder nur über die Wirtschaft zu reden. Denn dabei geht etwas wieder komplett unter: Das Gesundheitswesen. Corona ist nicht besiegt, das Virus ist immer noch da und es lässt sich, salopp gesagt, auch nicht von den heftigen Forderungen nach Planungssicherheit, stoppen.

Wer jetzt findet, der Lockdown sei doch gar nicht nötig gewesen, man habe überreagiert, der vergisst, was der Hauptgrund für dieses Runterfahren war. Man hat sich vor allem deshalb zu diesem Schritt entschieden, weil eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus‘ unsere Krankenhäuser überlastet hätte. Zustände wie in Italien hätten gedroht. Deshalb wollte man das Virus verlangsamen. Das ist uns gelungen. Nur: Wir haben immer noch nicht mehr Pflegefachpersonal, als vor einem Monat. Beatmungsgeräte und Masken kann man besorgen – zwar unter sehr erschwerten Umständen, aber es ist durchaus möglich. Pflegefachpersonal, vor allem das dringend nötige Personal auf den Intensivstationen, wird man nicht mal eben auf Bäumen finden.

Uns muss bewusst sein: Es ist leicht von Durchseuchung und Herdenimmunität zu reden, wenn man gerade gemütlich im Homeoffice sitzt und nicht auf der Station rumrennt, im Versuch, die vielen Patienten unterzubringen. Es ist leicht, darüber zu schwadronieren, dass alte Menschen nun einmal sterben müssen und Lungenkranke ja eh eine verkürzte Lebensdauer haben, wenn man den Angehörigen dieser Menschen nicht in die Augen sehen muss, die diese Menschen geliebt und verloren haben. Es ist leicht, grosse Reden darüber zu schwingen, dass Tod und Krankheit zum Leben gehören, wenn man nicht derjenige oder diejenige ist, die im Extremfall entscheiden muss, wer die lebenserhaltenden Massnahmen bekommt und wer nicht. Die Pflege muss das.

Politiker – und Politikerinnen, die sich jetzt lauthals darüber beschweren, der Bund sei schlecht vorbereitet gewesen, sollten sich mal daran erinnern, dass auch sie jahrelang den Fachkräftemangel in der Pflege gekonnt ignorierten. Meine Schwester engagiert sich seit vier Jahren dafür, dass diese Thematik endlich politisch auf den Tisch kommt. Ich erinnere mich, dass sie einmal ganz verzweifelt zu mir sagte: „Ich verstehe nicht, dass man in der Arena stundenlang hochemotional über ein Burkaverbot streiten kann – aber sich niemand für die Probleme der Pflege interessiert.“ Sie hat immer wieder betont, dass diese Probleme irgendeinmal verheerende Auswirkungen haben werden. Dass es so schnell und Form einer Pandemie passieren wird, hat sie freilich auch nicht vorausgesehen. Und sie hat sich bestimmt nicht gewünscht, auf diese dramatische Art bestätigt zu werden.

Aber nicht nur, dass man sich nicht damit auseinandersetzen mochte, dass im Pflegebereich die Fachkräfte scharenweise davonliefen, man verschlimmerte die Situation noch, indem man im Gesundheitswesen den Rotstift ansetzte und rigoros zusammenstrich. Im Bestreben möglichst viel einzusparen, hat man keinen Gedanken daran verschwendet, wie man mit diesen knappen Ressourcen einen hohen Pflegestandard beibehalten will. Hätte man in den vergangenen Jahren ins Gesundheitswesen investiert, statt es kaputt zu sparen, wäre vielleicht der Lockdown in dieser Härte nicht nötig gewesen.

Ja, es muss Lockerungen geben und ja, wir werden einen Weg finden müssen, mit dem Virus klarzukommen. Jetzt bereits alles wieder der Wirtschaft unterzuordnen und die Gesundheit komplett ausser Acht zu lassen, halte ich jedoch für gefährlich. Die Möglichkeit einer zweiten Welle besteht. Dass Corona von manchen bürgerlichen Politikern kleingeredet und verharmlost wird, halte ich für ein beunruhigendes Zeichen, ebenso die schnelle Bereitschaft von manchen, wieder zum Alltag überzugehen, bevor eindeutig klar ist, dass wir es überstanden haben. Hier wird eine Sicherheit vorgegaukelt, die schlichtweg noch nicht da ist.

Darum hat das Vorgehen des Bundesrates nichts mit Mutlosigkeit zu tun.

Sondern mit Vorsicht.

Lama Blog

Kommentare

Di., 21.04.2020 - 09:55 Christoph Salm

Erlauben sie mir zwei Bemerkungen. Wenn eine Therapie Wirkung zeigt, dann gibt es gute Gründe diese konsequent weiter- und zu Ende zu führen. Der Lockdown hat Wirkung gezeigt, jetzt gilt es diesen schrittweise aufzuheben. Begleitend muss von den Epidemiologen beobachtet werden, was die Konsequenzen der Lockerung sind. Zur immer lauter werdenden Kritik ist folgendes zu sagen.  Sind wir froh, dass wieder gestritten wird. So ist unsere Demokratie noch lange nicht in Gefahr. Aber bitte mit Anstand. Als Familienvater erinnere ich mich an die Zeiten der Kinderkrankheiten. Wenn das Fieber jeweils wieder zurückging sagte ich jeweils: "Jetzt zangge si wider, de si si äuä wider gsung." Und so war's.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
CAPTCHA
5 + 3 =
Bitte diese einfache mathematische Aufgabe lösen und das Ergebnis eingeben. Zum Beispiel, für die Aufgabe 1+3 eine 4 eingeben.
Diese Frage dient dazu, sicherzustellen, dass das Formular von einem Menschen und nicht durch einen automatischen Spamvskript ausgefüllt wird.