Im Ausnahmezustand

Protokoll einer Altenpflegerin in einer Isolationsabteilung

By Fräulein Lama

Tag 1: Eigentlich würden nun sieben freie Tage vor mir liegen. Nachdem ich über die Weihnachtsfeiertage gearbeitet habe, sehne ich mich nach den Stunden mit meiner Familie. Doch der Spätdienst fällt kurzfristig aus. Das bedeutet auch, dass meine Freitage flöten gehen, weil ich ihre Schicht übernehmen muss. Das kommt immer mal wieder vor, aber jetzt ist alles anders. Wie ein Dieb in der Nacht hat sich Corona in unsere Abteilung geschlichen. Nicht nur das Personal  hat es erwischt, auch mehrere Bewohner werden positiv getestet. Es sind so viele Fälle, dass meine Abteilung komplett isoliert wird. Unser Bereich ist nur noch mit Badge zugänglich ist. Niemand, der nicht hier arbeitet, darf die Abteilung betreten. Alles ist abgesperrt, überall hängen Warnplakate. Die Bewohner dürfen ihre Zimmer nicht verlassen. Wenn wir die Erkrankten pflegen, tragen wir FFP 2 Masken und Schutzkleider, wir wirken eher wie Ausserirdische, als wie Menschen. Wir werden alle getestet. Jetzt beginnt das Warten auf das Testergebnis. Es sind so viele Mitarbeitende erkrankt, dass ich nicht weiss, wie wir die nächsten Tage bewältigen sollen. Fast scheint es mir, als wären wir im Krieg. Und irgendwie stimmt das ja auch.

Tag 2: Wieder Spätschicht. Ich erfahre, dass eine Arbeitskollegin und Freundin von mir gekündigt hat, was mich emotional mitnimmt.  Eine Lieferung von 36 Liter Wein trifft bei uns ein. Eine Bewohnerin hat die Bestellung über Le Shop ausgelöst. Trotz dem Ernst der Lage muss ich lachen, als ich die riesige Menge Weinflaschen sehe. Heute arbeite ich nun fast eine ganze Woche lang.

Tag 3: An meinem freien Tag erhalte ich das Resultat meines Coronatests. Negativ. Die Frage, wie lange das so bleiben wird, nagt an mir.

Tag 4: Während andere mit ihren Lieben Silvester feiern, bin ich wieder am Arbeiten. Spätdienst.  Das neue Jahr bricht an. Draussen beginnt  es zu schneien. Nach meiner Schicht stosse ich draussen mit meiner Familie und Freunden. Mit Abstand und Maske.  Ein krasser Gegensatz zum letzten Jahr, als wir noch bei uns zuhause alle zusammen ausgelassen gefeiert haben. Ich wünsche mir so sehr diese Normalität zurück.

Tag 5/6/7:  Nach hektischen Tagen habe ich nun endlich einmal frei. Nichts zu tun haben, fühlt sich gut, aber auch irgendwie seltsam an.

Tag 8: Wieder auf der Station. Chaos herrscht. Die kompliziert gewordenen Abläufe funktionieren nicht.  Arztverordnungen, Blutentnahmen, Telefonnotizen und Formulare verschwinden, um  wieder an den unmöglichsten  Orten aufzutauchen. Es ist nicht leicht, Ruhe zu bewahren. Alle sind gestresst und gereizt. Zugleich ist es der  erste  Arbeitstag meiner Schwester, die zwar auf einer anderen Abteilung, aber in derselben Institution wie ich, ihre Stellung antritt. Über diese familiäre Verstärkung freue ich mich. Wieder muss ich zum Coronatest antraben und dieses Mal tut es weh, als das Stäbchen in meine Nase geführt wird.

Tag 9: Auch der zweite Test ist negativ. Die Freude und die Erleichterung sind riesig. Ein Spätdienst fällt aus. Der Arbeitsplan wird wieder über den Haufen geworfen. Zum  x-ten Mal. Wie soll man denn alle Schichten abdecken, wenn wir schon im Normalbetrieb knapp besetzt sind und jetzt so viele von uns erkrankt sind? Irgendeinmal sind die Arbeitskräfte einfach ausgeschöpft.

Tag 10: Die Abläufe sitzen besser. Die Formulare kommen endlich an den richtigen Ort. Körperlich spüre ich langsam die Belastung. Alles tut weh.

Tag 11/12: Freie Tage. Kraft tanken. Zuhause bleibe.

Tagg 13: Wieder Spätdienst. Ich bin motiviert gestartet, aber die ständige Anspannung hinterlässt Spuren im Team. Eine Arbeitskollegin greift mich persönlich an. Zugleich erfahre ich aber auch Solidarität und Unterstützung von einer anderen Pflegefachfrau. Eine langjährige und liebgewonnene Bewohnerhin stirbt. Sie hat es nicht geschafft. Corona ist ihr zum Verhängnis geworden.

Tag 14: Spätdienst. Es wird nicht über den Todesfall gesprochen. Die Angehörigen melden sich und fragen nach. Wie sagt man, dass jemand nun nicht mehr da ist?

Tag 15: Spätdienst. Die Stimmung hat sich wieder etwas gebessert, nun wird offen über den Todesfall gesprochen. Von einer  Angehörigen erhalten wir einen wunderschönen Blumenstrauss mit weissen Rosen. Ein ruhiger Abend.  Ab morgen wird die Abteilung wieder für die Aussenwelt geöffnet. Das Gröbste haben wir geschafft.

Eine strenge Zeit liegt hinter mir. Es war, als würde ich in zwei Welten leben.  Draussen drehte sich alles  normal weiter,  während wir ums Überleben kämpften und manchmal nicht wussten, wie es weitergehen soll. Acht meiner Arbeitskolleginnen sind selbst an Covid19 erkrankt. Die Hälfte unserer Betagten hat es getroffen. Manche von ihnen haben wir verloren. Unser Team hat es in diesem Sturm stark durchgerüttelt, aber gemeinsam haben wir es geschafft, auch dank der Leitungspersonen, die präsent waren und Unmögliches möglich gemacht haben. Ich  war oft wütend und traurig und erschöpft – trotzdem war ich da und habe meine Arbeit gemacht. Diese Situation hat mir gezeigt, was ich alles schaffen kann. Es ist noch nicht alles vorbei, aber es fühlt sich an, als wäre der steilste Abschnitt des Weges geschafft.

Der Ausnahmezustand hat seine Spuren hinterlassen. Die Gefühle in mir sind immer wieder übersprudelt. Mal habe ich gelacht, dann wieder geweint. Das ist okay. Das gehört zu meinem Job. Und zu mir. Auch in der Krise lasse ich mir mein Herz nicht nehmen. Von niemanden.

Lama

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