Phänomen Shitstorm

Wann haben wir eigentlich verlernt, andere Meinungen zu akzeptieren, ohne virtuell Amok zu laufen?

By Fräulein Lama

Kennt ihr noch die guten alten Kneipenschlägereien, die einst zu Wild West Filmen ebenso dazu gehörten wie Pistolenduelle und Siedlertecks? Jemand sagt etwas, was einen anderen aufregt. Sie fangen sich an zu prügeln, worauf auch andere auf den Krach aufmerksam werden und ebenfalls anfangen, schlagkräftig mitzudiskutieren. Stühle fliegen durch die Gegend, Tische krachen zusammen, der Barpianist landet kopfüber in seinem Klavier, die Theke wird in ihre Einzelteile zerlegt, die Fenster gehen zu Bruch. Am Ende blutet jemand aus der Nase, ein anderer hat ein blaues Auge, der dritte einen Riss in der Stirn und der vierte eine Gehirnerschütterung. Worum es ursprünglich in dem Streit gegangen ist, weiss niemand mehr so genau, dafür haben sich zahlreiche andere Privatfehden entwickelt. Und es dauert meist nicht lange, bis man sich wieder gegenseitig die Fresse poliert.

Heute gibt es ein anderes Wort für Kneipenschlägerei: Shitstorm. Jemand postet oder sagt etwas. Ein anderer kritisiert das auf seinen Kanälen. Die Wogen gehen hoch. Es wird fleissig kommentiert. Der Ton verschärft sich. Und am Ende ist er da, der sogenannte Shitstorm, der seine Opfer davonträgt und davonwirbelt. Shitstorms hinterlassen bei den Beteiligten Spuren, zumal sie nicht selten in wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen enden. Und Shitstorms sind ein beunruhigendes Zeichen dafür, dass wir zunehmend verlernen, mit anderen Meinungen zu leben oder sie auf eine sachliche, nüchterne Weise zu widerlegen. Aber auch, dass wir alle sehr schnell zu Mobber*innen mutieren, wenn wir glauben, im Recht zu sein.

Jüngst erwischte es J. K Rowling, Autorin von Harry Potter. Sie spöttelte in einem Tweet über die Formulierung eines Artikels, der von Menschen, die menstruieren redete. Rowling fragte darauf rhetorisch, ob es dafür nicht ein Wort gebe. Gemeint war natürlich Frau. Davon fühlte sich die Transgendergemeinschaft angegriffen und reagierte entsprechend aufgebracht. Das kann ich zum Teil verstehen. Der Tweet war nicht besonders sensibel. Allerdings hat J. K Rowling kurz darauf ein umfangreiches Essay veröffentlicht, in der sie ihre Meinung ausführlich untermauert. Sie führt logische und sachliche Argumente ins Feld, die man nicht teilen muss, aber zumindest nachvollziehen kann.

Nicht nachvollziehbar dagegen ist, dass Fans dazu aufgefordert werden, die Harry – Potter Bücher zu verbrennen. Mal abgesehen davon, dass ich als Buchmensch sehr dagegen bin, irgendwelche Bücher ins Feuer zu schmeissen, hat das Werk an sich, ja nichts mit der Transgenderthematik zu tun und auch nichts mit der Kontroverse. Heutzutage vermischt man Werk und Schöpfer oft. Sind wir von einer Bücherreihe Fan, reagieren wir verletzt und gekränkt, wenn der/die Autor*in eine Ansicht verbreitet, die unserer widerspricht. Äussert eine Musikerin eine Meinung, mit der wir nichts anfangen können, schmeissen wir die Lieder von unserer Playlist. Und hat der Lieblingsregisseur eine andere politische Einstellung als unsere, mögen wir uns die Filme nicht mehr ansehen.

(Würden wir das konsequent durchziehen, würde unser literarisches Leben übrigens ziemlich düster aussehen. Der vielgelobte Bertolt Brecht war ein Frauenheld, J. R. R Tolkien war ein überaus konservativer Typ, Dürrenmatt exzentrisch,  und von Shakespeare haben wir sowieso keine Ahnung, was er (oder sie) den ganzen Tag getrieben hat).

In Rowlings Fall fiel der Shitstorm auch deshalb so heftig aus, weil sie eigentlich eine sehr aufgeklärte und offene Autorin ist, die für mehr Vielfalt in der Gesellschaft wirbt. Nun hat sie ihre Community einmal vor den Kopf gestossen und die rastet aus. Aus enttäuschter Liebe. Und weil wir in den vergangenen Jahren den Anspruch entwickelt haben, dass alle Menschen, die einen Platz in unseren Leben und auf unseren Social Media Kanälen haben, sich  exakt so zu verhalten haben, wie wir es uns wünschen. Dabei fällt es uns auch zunehmend schwer zu unterscheiden, was rassistisch, frauenfeindlich, homophob und ehrverletzend ist und was lediglich von unserer Meinung abweicht. Die Grenzen verschwimmen zusehend. Nicht jede/r Abtreibungsgegner*in ist frauenfeindlich. Nicht jede/r konservative Politiker*in ist Rassist*in.

Mit Sorge beobachte ich auch das Phänomen des orchestrierten Shitstorms. Auf Twitter ist es inzwischen zum beliebten Sport geworden, Follower aufzuheizen und sie auf ungeliebte Personen anzusetzen à la: „Guckt mal, was der/die geschrieben hat und sagt ihm/ihr was ihr davon haltet.“ Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Zwist zwischen Jolanda Spiess – Hegglin und Michèle Binswanger. Letztere wollte ein Buch schreiben über jene Zuger Landammenfeier, deren Geschehnisse bis heute nicht gänzlich geklärt sind. Daraufhin erwirkte Jolanda Spiess – Hegglin eine superprovisorische Verfügung, die es Binswanger untersagt, persönlichkeitsverletzende Äusserungen über sie zu verbreiteten.

Absolut verständlich, dass sich Jolanda Spiess – Hegglin schützen will. Weniger Verständnis habe ich aber für das Mobbing, dass von ihren Follower*innen seitdem gegenüber Michèle Binswanger betrieben wird. Denn bevor sie diese superprovisorische Verfügung erwirkt hat, hat Jolanda Spiess – Hegglin ihrer Community vom Buchprojekt berichtet – und damit erst Recht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Buch gezogen. Der Shitstorm entlud sich über Michèle Binswanger, ihre journalistische Arbeit wurde zerrissen, ihre Tweets verhöhnt und ihre Kolumnen durchs Band weg runtergemacht – auch wenn sie nichts mit der Landammenfeier zu tun hatten. Inzwischen kann sich Binswanger auf Twitter zu nichts mehr äussern, ohne dass die Follower*innen von Jolanda Spiess – Hegglin es hämisch kommentieren. Sie selbst unternimmt nichts, um ihre Anhänger*innen zu bremsen. Obwohl sie ja einst selbst Opfer einer solchen Kampagne geworden ist.

Natürlich kann man sagen, dass Binswanger das herausgefordert oder gar verdient hat. Sie hat damals einen Artikel über Jolanda Spiess – Hegglin geschrieben, den man durchaus kritisch sehen kann. Sie stochert in einer Geschichte herum, die viele abschliessen wollen. Ein Charakteristikum von Mobbing ist aber, dass man sich selbst immer im Recht sieht, weil die gemobbte Person es aus unserer Sicht verdient hat. Etwas Falsches aus dem richtigen Grund zu tun, macht es aber noch lange nicht richtig.

Das Beispiel von Michèle Binswanger und Jolanda Spiess – Hegglin zeigt auch ein weiteres Phänomen: Wir machen unserem Zorn auf Social Media Luft, statt mit dem/der Verursacher*in des Ärgers direkt zu reden. Statt der Migros einen Brief zu schreiben, dass wir Erdbeeren im Winter als stossend empfinden, fotografieren wir lieber die Erdbeeren und schicken das Bild an 20 Minuten, wo wir uns dann gemeinsam mit anderen darüber echauffieren können. Das hat nichts mit Zivilcourage zu tun. Sondern mit modernen Mobs, die mit Fackeln und Heugabeln ins Feld ziehen –  ohne sich die Mühe zu machen, irgendwelche Hintergründe zu erforschen oder nach einer Lösung zu suchen.  

Auch bei mir stelle ich immer mehr fest, dass ich ungnädig auf andere Meinungen reagiere oder gar nicht erst auf sie eingehe. Es ist einfach, sich in seiner eigenen Weltanschauung einzurichten, aber hin und wieder, müssen wir bereit sein, sie zu korrigieren. Und vor allem müssen wir hin und wieder bereit sein, anderer Menschen Gehör zu schenken, auch wenn uns das, was sie sagen, nicht passt. Denn wenn wir das nicht tun, verlernen wir irgendwann die gepflegte Diskussion ganz. Und gehen dazu über uns abwechselnd als „linkes Schwein“ und „konservatives Arschloch“ zu bezeichnen.

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