Der neue alte Alltag

By Fräulein Lama

Meine Rückkehr in den halbwegs normalen Alltag begann mit einer ungemütlichen Pflicht: Ich musste zum Zahnarzt bzw. in meinem Fall zur Zahnärztin und zwar nicht für eine harmlose Zahnreinigung, sondern um ein Loch zu flicken, was stets in doppelter Hinsicht schmerzhaft ist: Für mich, weil mich eine fiese Spritze piesackt und für mein Konto, dass danach stets einen akuten Anfall von Schwindsucht erleidet (wobei ich meine schlechten Zähne natürlich selbst zu verantworten habe. Aber dieser Gedanke macht den Schmerz nicht besser. Nur bitterer).

Am Abend zuvor hatte ich mir tatsächlich einige Minuten überlegt, ob ich wohl einen Mundschutz tragen muss, denn schliesslich kommt man sich beim Zahnarzt zwangsläufig nahe. Und das sogar mit geöffneten Mund. Erst nach einigem Nachdenken fiel mir Genie schliesslich ein, dass man Zähne ja schlecht durch einen Mundschutz flicken kann.

Als ich schliesslich die Zahnarztpraxis betrat, etwas nervös, weil ich keineswegs wirken wollte wie ein rücksichtsloser Parasit. Mein Versuch einen guten Eindruck zu hinterlassen, wurde empfindlich dadurch gestört, dass ich unterwegs in einen Regenschauer geraten war, weshalb ich in der Zahnarztpraxis erst einmal alles volltropfte, inklusive der Toilette, wo ich mir erst einmal die Hände schrubben musste. Danach wurde noch Fieber gemessen, aber ansonsten war eigentlich alles wie immer: Die Betäubung war genauso nervig wie vor Corona, das Bohren genauso unangenehm und die Erleichterung danach gleich gross (und die Vorsätze, nie mehr was Süsses zu essen, habe ich natürlich auch gleich wieder gebrochen).

Auf meine Arbeit dagegen freute ich mich. Fast zwei Monate war meine Buchhandlung – wie alle anderen Läden – geschlossen gewesen. Die Zugfahrt nach Bern genoss ich richtig, denn es gibt kaum einen Ort, an dem ich lieber lese, als im Zug. Da ein Grossteil der Bevölkerung immer noch im Homeoffice ist oder mit dem Auto zur Arbeit fährt, hatte ich den ganzen Zugwagen praktisch für mich. Generell sind die Züge auf meiner Strecke noch halbleer. Abstand halten ist kein Problem.

Im Bahnhof Bern kam es mir ruhiger vor. Klar, das alte Gewusel war zum Teil zurück, aber irgendwie kam es mir so vor, als würden sich alle etwas langsamer und vorsichtiger bewegen, fast so, als wolle man den unsichtbaren Feind keine Angriffsfläche bieten. Wenige trugen Maske, aber man wich sich aus und tauschte entschuldigende Blicke und verschämte Lächeln, wenn man sich kreuzte. Ansonsten ist es ja oft so, dass man sich im Bahnhof ungeduldig vordrängelt und auch mal jemanden zur Seite schubst, wenn er oder sie zu langsam läuft.

In der Buchhandlung angekommen, geriet ich schnell wieder in die Strudel des Alltags. Der hatte sich natürlich um einige Punkte erweitert – Desinfizieren der Hände und der Arbeitsfläche gehören jetzt genauso dazu wie die Markierungen auf dem Boden, die anzeigen, wo man anstehen darf und Plexiglasscheiben an den Kassen.

Dass ich wirklich lange nicht mehr im Geschäft war, merkte ich daran, dass ich fast alle meine Passwörter vergessen hatte, weshalb ich die erste Stunde meiner Schicht damit verbrachte, mit der IT zu telefonieren. Aber auch sonst fühlte ich mich ein wenig wie ein Lehrling an seinem allerersten Arbeitstag oder wie ein verschrecktes Huhn: Ich lief durch den Laden und wusste gar nicht richtig, was ich machen sollte. Einfache Kundenanfragen führten bei mir plötzlich zu einem Hirnkurzschluss. Bücher, von denen ich vor dem Lockdown automatisch wusste, wo sie zu finden sind, musste ich hektisch suchen. Und manche Veränderungen im Laden, musste ich mir  selbst erst verinnerlichen – wie zum Beispiel unser Bahnhofdurchgang, der aktuell geschlossen ist. Am Schlimmsten war aber, dass mein Körper das lange Stehen nicht mehr gewöhnt war. Meine Füsse schmerzten an diesem Abend so sehr, dass ich wie eine alte Schildkröte nachhause wankte. Doch schon am zweiten Arbeitstag waren viele Handgriffe wieder selbstverständlich und auch der Körper verzieh es mir, dass ich ihn so rüde aus seinem Winterschlaf geweckt hatte.

Ich persönlich merke deutlich, dass die Hygienemassnahmen den meisten Menschen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Die Abstände werden automatisch eingehalten, ich muss selten jemanden bitten, ein paar Schritte zurückzugehen. Im direkten Kundenkontakt ist natürlich die richtige Kommunikation, gerade bei diesem Thema, sehr wichtig. Man darf der Kundschaft nicht das Gefühl geben, sie seien unwillkommen oder unerwünscht. Da braucht es schon ein wenig Fingerspitzengefühl.

Im Allgemeinen spüre ich bei der Kundschaft viel Verständnis und viel Freude über die Wiedereröffnung. Und bei mir selbst merke ich, dass ich Dinge, die mir vor Corona extrem auf die Nerven gingen, gelassener angehen kann. Wie lange dieser Effekt anhalten wird, sei jetzt mal dahingestellt. Ich finde es auf jeden Fall schön, wieder einen Teil meines Alltags zurückzuhaben.

Natürlich muss man aufpassen, dass man sich nicht zu sehr davon mitreissen und alle Vorsichtsmassnahmen fahren lässt. Die Normalität ist zurück. Aber es ist eben eine neue Normalität.

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