Vertrauensfrage

Vertrauen fällt uns gerade in dieser Zeit nicht leicht. Dabei würde es uns helfen.

By Fräulein Lama

Vor ein paar Wochen las ich einen Zeitungsartikel, in dem es um Schwedens Sonderweg ging. Eine Schwedin erklärte die lockeren Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus mit einem schlichten „Wir vertrauen uns einfach.“ Ungeachtet der Frage ob Schwedens Lösung jetzt die bessere oder schlechtere Variante ist, fand ich diesen Satz bemerkenswert. Ich war mitten in meiner persönlich schlimmsten Coronaparanoia. Menschen wurden für mich immer mehr zu Virenschleudern, zu Risikogruppen, zu fahrlässigen Lebewesen, die meine Gesundheit und die meiner Liebsten aufs Spiel setzen. Überall sah ich Verstösse gegen die Coronauflagen. Sogar wenn ich einen Film ansah, hätte ich den Schauspieler*innen am liebsten zugebrüllt: ABSTAND HALTEN!

Generell beobachte ich bei mir die Tendenz, von anderen Menschen schnell das Schlechteste zu denken. Am meisten eingefahren ist mir in diesem Zusammenhang ein Kundenerlebnis. Vor ein paar Jahren fragte ich in der Buchhandlung einen jungen Mann, ob er etwas Bestimmtes suche. Er reagierte nicht, sondern sah sich ungerührt weiter Bücher an. Ich ärgerte mich. Wie unhöflich, dachte ich, was für ein arroganter Kerl, wofür hält der sich eigentlich, warum kann er nicht freundlich zu mir sein, bestimmt hält er es für unter seiner Würde, einer Buchhändlerin zu antworten…ich redete mich gedanklich total in Rage und war so sauer, dass ich es gleich noch mal versuchte, diesmal in einem deutlich schnippischeren Tonfall. Dabei trat ich näher an ihn heran, worauf er meine Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Er drehte den Kopf zu mir…und begann in Zeichensprache zu gebärden. Der junge Mann war weder unhöflich noch arrogant, sondern taub. In diesem Augenblick habe ich mich sehr geschämt. Ich war so schnell bereit in als hochnäsig abzustempeln, dass ich einen anderen Grund für sein Verhalten gar nicht in Betracht zog.

Natürlich, wir Menschen handeln nicht immer so, wie wir sollten. Wir lügen, stehlen, schaden der Umwelt, sind fies zueinander, führen Kriege, foltern, betrügen, quälen uns gegenseitig, ignorieren Probleme, wenn sie uns nicht direkt selbst betreffen und entwickeln eine fast beängstigende Kreativität, wen es darum geht, anderen Leid zuzufügen. Aber es gibt eben auch die andere Seite. Wir empfinden Mitgefühl, helfen einander, heilen, umsorgen unsere Mitmenschen, bringen uns gegenseitig zum Lachen, schaffen Kunst, übernehmen Verantwortung, finden Lösungen und lernen immer wieder dazu. Davon auszugehen, dass jeder Mensch grundsätzlich verdorben ist, greift zu kurz. Der Reflex, jedem gleich niedere Motive zu unterstellen, ist auch nicht besonders gut für die Psyche und endet nicht selten im allumfassenden Weltschmerz, mit der damit verbundenen Passivität à la: der Mensch ist halt schlecht, drum besauf ich mich jetzt ausgiebig, damit ich es ertragen kann und dann schreib ich einen bösen Text über die Schlechtigkeit der Menschen.

Jetzt, mit dem Corona unter uns, hat das Vertrauen in unsere Mitmenschen generell gelitten. Auf Social Media wurde es in den letzten Wochen quasi zur Hauptbeschäftigung vieler, sich ausgiebig darüber zu beschweren, dass sich ja kaum jemand an die Vorschriften halte. Man klagte über rücksichtslose Menschen, die im Migros  keinen Abstand halten, über Jogger, die keuchend an einem vorbeisausen, über Heerscharen von Menschen, die sich draussen auf den Wiesen tummelten. Auch die Medien überboten sich gegenseitig mit Artikeln und Beiträgen in denen das fahrlässige Verhalten der Menschen in der Schweiz ausgiebig beleuchtet wurde. Auf Parkplätzen kontrollierte man Autokennzeichen, denn vielleicht hat sich ja ein fremder Fötzel aus einem anderen Kanton eingeschlichen. Alle Lokalsender waren auf den Strassen unterwegs, um vorwurfsvoll die Kamera draufzuhalten, wenn es sich jemand auf einer Parkbank gemütlich gemacht hat. Der Höhepunkt dieses kollektiven Misstrauens war an Ostern erreicht, als die Berner Zeitung einen Livestream am Gotthard einrichtete, damit Herr und Frau Schweizer auch am Bildschirm darüber wachen konnten, ob wirklich alle dem Tessin fernblieben. Uns fehlte einfach das Vertrauen in unsere Mitmenschen.

Das ist aufgrund des Virus natürlich nachvollziehbar. Dennoch, der Eindruck, dass sich niemand an die Vorschriften hält, war falsch – sonst wäre es uns nicht gelungen, die Kurve abzuflachen. Trotz einiger Ausreisser, ein Grossteil der Bevölkerung hat sich vorbildlich benommen. Und das, ohne das je eine Ausgangssperre hätte verhängt werden müssen. Manch einer verlangte sie, manch einer behauptete, ohne konkretes Verbot, würden die Menschen machen was sie wollen, Autoren schrieben apokalyptische Texte, weil die Menschen der Schweiz nicht begriffen hätten, wie ernst die Lage sei. Doch, die Menschen haben grösstenteils begriffen und das Vertrauen des Bundesrates nicht missbraucht. Das ist eine gute Nachricht.

Die uns bevorstehende Lockerungsphase wird Unsicherheiten bringen. Wir können nichts daran ändern, dass das Virus weiterhin da ist. Aber wir können entscheiden, wie wir in dieser Zeit miteinander umgehen. Ob wir uns misstrauisch belauern, ankeifen und anschwärzen oder ob wir uns unterstützen, anlächeln und einander vertrauen.

Blogbild

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
CAPTCHA
12 + 1 =
Bitte diese einfache mathematische Aufgabe lösen und das Ergebnis eingeben. Zum Beispiel, für die Aufgabe 1+3 eine 4 eingeben.
Diese Frage dient dazu, sicherzustellen, dass das Formular von einem Menschen und nicht durch einen automatischen Spamvskript ausgefüllt wird.