Liebe in Zeiten von Corona

Eine Kurzgeschichte für alle, die ein wenig Kitsch brauchen

By Fräulein Lama

Soll sie die Lasagne jetzt noch essen oder nicht?

Sara drehte sich mit einem Seufzen auf den Bauch. Schwierige Frage. Einerseits hatte sie gar keinen Hunger mehr, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie vor etwa zwei Stunden ein halbes Dutzend gezuckerter Pfannkuchen in sich reingestopft hatte, kein Wunder war. Andererseits gehörte Essen inzwischen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Es gab für sie momentan kaum Befriedigenderes, als sich Löffel um Löffel in den Mund zu schieben, zu schmatzen und das Essen dabei geräuschvoll runterzuschlucken. Auf Manieren musste sie  ja nicht achten. Sie war schliesslich allein.

Und essen war zumindest produktiv. Der Anblick des leeren Tellers (oder des leeren Eiskübels) gab ihr das Gefühl, wenigstens etwas geschafft zu haben.

Nur, ihr Magen würde es ihr jetzt definitiv nicht verzeihen, wenn sie ihm jetzt auch noch eine fetttriefende Lasagne zumutete. Essen kam also vorläufig nicht in Frage. Vielleicht sollte sie sich eine weitere Folge ihrer Lieblingsseifenoper „Liebessturm“ reinziehen? Das war immer so schön romantisch. Sara hatte die Fernbedienung schon in der Hand, als ihr in den Sinn kam, dass eine der Hauptfiguren der Sendung momentan nach einer schweren Herzoperation im Krankenhaus lag. Schaudernd legte sie die Fernbedienung wieder weg. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren noch mehr Krankheiten.

Gestern hatte sie sich den ganzen Tag felsenfest eingebildet, Corona zu haben, weil ihre Nase gejuckt hatte. Völlig panisch hatte sie ihre Hausärztin kontaktiert, die ihr wortwörtlich am Telefon gesagt hatte, sie „solle sich nicht so hysterisch aufführen.“ Hysterisch! Als wäre Sara in ihrem Leben jäh hysterisch gewesen (dieses eine Mal als sie gedacht hatte, an ihrem Zeh wachse ein Tumor, und sie schluchzend in den Notfall gerannt war, zählte ja wohl nicht. Und auch ein Nagelpilz konnte schliesslich gefährlich werden, wenn man ihn zu spät entdeckte).

Sie drehte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Decke. Nie hätte sie gedacht, dass man sich dermassen langweilen konnte. Alles in ihr sehnte sich danach, nach draussen zu gehen, Freunde zu treffen, in der Disco zu tanzten. Sie vermisste ihre Mädelsabende in der Bar. Sie vermisste ihre Theatergruppe. Sie vermisste ihre Yogastunden. Sie vermisste sogar die Arbeit. Wie gerne würde sie wieder einmal Gäste bedienen, mit ihnen lachen und scherzen, während sie ihnen die köstlich duftenden Speisen brachte. Wie gerne würde sie wieder einmal mit müden und schmerzenden Beinen nachhause kommen und dann glücklich ins Bett sinken, mit der Gewissheit, einen erfüllten Tag verbracht zu haben. Wie gerne würde sie wieder einmal mit ihren Kollegen ein Feierabendbier trinken und mit ihnen über die Gäste lästern. Manchmal fehlte es ihr sogar, von diesem schrecklichen Herr Meyerhofer angebrüllt zu werden, der immer behauptete, sein Essen sei zu fade. Vielleicht sollte sie ihn einfach mal anrufen und ihn bitten, sie durch den Hörer anzuschreien. Möglicherweise half das gegen ihre Entzugserscheinungen.

Und das alles wegen diesem blöden Coronavirus. Nur deshalb sass sie hier in der Heimquarantäne fest.

Nicht wieder in Selbstmitleid ertrinken, mahnte sich Sara selbst, das hilft dir nicht weiter. Am besten machst du dir jetzt eine schöne Tasse Tee. Das war inzwischen ebenfalls eine Lieblingsbeschäftigung von ihr. Massenhaft Tee in sich reinschütten. Vermutlich hatte sie in den letzten Tagen mehr Tee getrunken als Queen Elizabeth in ihren ganzen Leben. Also raffte sich Sara mühsam vom Sofa auf.

Als  sie an der Terrassentür vorbeischlurfte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie blieb stehen. In den letzten, eintönigen Wochen hatte sie sich zur Gafferin entwickelt. Alles fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der spannungsmässige Höhepunkt ihres Wochenendes war gewesen, als sie die Katze ihrer Nachbarin dabei beobachtet hatte, wie sie genüsslich eine Maus verspeiste.

Was Sara jetzt sah, verschlug ihr den Atem. Da, im Licht der strahlenden Frühlingssonne sah sie einen Mann. Und nicht irgendeinen Mann. Sie sah den schönsten Mann der Welt, der offenbar gerade aus dem Haus gegenüber getreten war. Gegen diesen Mann wirkten Chris Hemsworth und Daniel Craig wie unreife Schulbuben. Sein rötlich schimmerndes Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab, was seiner Schönheit jedoch keinen Abbruch tat, sondern sie geradezu unterstrich. Er hatte hohe, weich gezeichnete Wangenknochen, eine scharf geschnittene Nase (die ihm das Aussehen eines römischen Adeligen verlieh) und funkelnd blaue Augen. In den feingliedrigen Händen hielt er eine dampfende Kaffeetasse und wie er da so stand, hatte er etwas vom Löwen Mufasa, der gerade sein Reich überblickte. So stolz. So zufrieden mit sich und der Welt. Sara konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Mit geöffneten Mund starrte sie ihn an.

Wie hatte sie so ein Prachtexemplar in der Nachbarschaft übersehen können? Moment, natürlich, jetzt erinnerte sie sich. Vor zwei Monaten waren die Möbelwagen vorgefahren. Aber Sara hatte sich nicht sonderlich dafür interessiert. Und bei ihren unregelmässigen Arbeitszeiten lief sie ihren Nachbarn ohnehin selten über den Weg. Wenn sie allerdings gewusst hätte, wer da gegenüber wohnte…

Da! Auf einmal traf sein Blick sie. Sofort schlug ihr Herz schneller. Er sah sie an! Sah sie tatsächlich an, aus seinen unglaublich blauen Augen, die direkt in ihre Seele zu blicken schienen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Und dann winkte er. Winkte ihr tatsächlich zu. Augenblicklich begann Sara wie wild zurückzuwinken…bis ihr bewusst wurde, wie sie aussah. Sie hatte sich seit Tagen nicht mehr geduscht. Ihr sonst so sorgfältig gepflegtes blondes Haar hing ihr in fettigen Strähnen auf die Schultern, statt Kontaktlinsen trug sie ihre riesige Brille mit den dicken Gläsern und ihr Coca – Cola T – Shirt war mit Schokoladenflecken übersät. Von ihren schlabbrigen Jogginghosen gar nicht zu reden. Kurz: Sie sah gerade alles andere als attraktiv aus.

Mit knallroten Wangen wandte sich Sara ab. Das war mal wieder typisch für sie! Da begegnete sie dem Mann ihrer Träume, aber nicht etwa, während dem sie in einem hübschen Sommerkleid elegant auf den Fahrrad sass und der Fahrtwind durch ihre Haare strich, sondern natürlich genau dann, wenn sie aussah, als wäre sie frisch aus der Mülltonne gekrochen.

Aber das musste ja nicht so bleiben.

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In den nächsten Tagen stiegen Saras Aktivitäten rasant an. Sie stand jeden Morgen auf, duschte und zog sich dann ihren seidigen Morgenmantel an, der zwar nicht im Geringsten wärmte, aber in dem sie sich fühle wie Marilyn Monroe. Mit einer Tasse bewaffnet stellte sie sich auf die Terrasse, wobei sie das gegenüberliegende Haus nicht aus den Augen liess. Manchmal hatte sie Pech und das Objekt ihrer Begierde liess sich nicht blicken (was bedeutete, dass sie sich für nichts den Hintern abfror und eine Blasenentzündung riskierte). Hin und wieder hatte sie aber auch Glück und er trank ebenfalls seinen Kaffee vor der Tür. Dann tauschten sie ein verschwörerisches Lächeln, das Sara für den ganzen Tag wärmte. Aber ihn anzusprechen, wagte sie nicht. Wenn sie gerade sehr draufgängerischer Stimmung war, liess sie sich den Morgenmantel von der Schulter gleiten (zumindest, bis sie einmal bemerkte, dass ihr anderer Nachbar, der schmierige Herr Schultze, ebenfalls sabbernd am Fenster hing. Danach liess sie es bleiben und beschränkte sich darauf, auf möglichst elegante Weise Tee zu trinken).

Auch ansonsten verlegte sie viele ihrer Tätigkeiten nach draussen. Sie goss jeden Morgen ausgiebig die Blumen, wobei sie, ganz im Stile einer Disney – Prinzessin  Lieder trällerte. Wenn es das Wetter zuliess, setzte sie sich mit einem Buch in den Gartenstuhl (wobei sie darauf achtete, möglichst klug klingende Titel zu nehmen). Und die morgendlichen Turnübungen, die sie seit neuestem absolvierte, führte sie ebenfalls im Garten oder zumindest gut sichtbar an der Terrassentür aus.

Als nach einer Woche schliesslich die von ihr bestellte Joggingkleidung eintraf, beschloss Sara, das Schicksal herauszufordern. Sie schlüpfte in die eng anliegenden Leggins, den Sport – BH und die Turnschuhe. Die Haare band sie sich zum Pferdeschwanz. So zurechtgemacht fühlte sie sich imstande, eine Runde zu drehen.

Allerdings dauerte es nicht lange, bis ihr schmerzhaft bewusst wurde, dass seit Jahren nicht mehr laufen gewesen war. Nach ein paar Schritten begannen ihre Seiten bereits zu stechen, ein paar Minuten später brannte ihre Lunge und nach einer halben Stunde keuchte sie wie eine alte Dampflokomotive. Gott, war das anstrengend! Ihre Haare hatten sich bereits aus dem sorgfältig gebundenen Pferdeschwanz gelöst und klebten ihr im Gesicht, ihr Sport – BH klebte unangenehm an ihren Busen und ein See aus Schweiss bildete sich in ihrer Hose. Sie fühlte sich ungefähr so attraktiv wie eine Fliege, die man an der Wand zerklatscht hatte.

Bevor Sara wieder in ihre Strasse einbog, blieb sie hechelnd stehen und stützte sich schwer auf ihren Knie ab. Wieso sahen all diese rennenden Frauen in der Werbung immer so verdammt glücklich aus? Sie hatte immer geglaubt, Leute, die regelmässig joggen gingen, hätten ihr Leben im Griff! Was für eine Lüge. Leute, die regelmässig joggen gingen, hatten offenbar einfach einen Todeswunsch!

Nachdem sie wieder einigermassen zu Atem gekommen war, erinnerte sie sich wieder an ihre Mission. Entschlossen richtete sie ihren Pferdeschwanz. Jetzt kam es darauf an! Zügig, aber nicht zu schnell, begann sie ihren Lauf wieder aufzunehmen, den Blick fest auf sein Haus gerichtet. Sie betete stumm, dass er gerade jetzt aus dem Fenster sah, damit sich der ganze Aufwand wenigstens lohnte. Na, los, sieh hin, beschwor sie ihn stumm, sieh doch mal, wie sportlich ich bin…

Saras Gebete wurden nicht erhört. Zumindest vorerst nicht. Tatsächlich musste sie dreimal um sein Haus rennen, bis sie endlich eine Bewegung hinter den Gardinen bemerkte. Sofort drosselte sie das Tempo runter (was ihr nicht sonderlich schwerfiel. Inzwischen gab es keinen Muskel mehr, der nicht schmerzte) und versuchte, so auszusehen, als würde ihr das Ganze total Spass mache und nicht, als würde sie jeden Moment auf den Boden kotzen. Und tatsächlich: Die Tür öffnete sich. Sie sah erst seinen Fuss – seinen göttlich anmutigen Fuss – und dann den Rest seines Körpers. Sofort begann Sara zu strahlen. Sie lächelte ihn an, liess den Pferdeschwanz wippen, hob die Hand, um ihm lässig zuzuwinken…und spürte dann einen scharfen Schmerz hinter der Stirn.

Sie war gerade mit voller Wucht in einen Laternenpfahl gelaufen.

Später, als sie mit einer Eispackung auf der Stirn auf dem Sofa lag, schämte sie sich immer noch für diesen peinlichen Auftritt. Wie konnte sie nur so dumm sein und in einen Laternenpfahl latschen? Er lachte sich bestimmt kaputt über sie. Und überhaupt, wieso benahm sie sich wie ein liebeskranker Teenie? Nur weil ihr langweilig war? Diese Kopfschmerzen geschahen ihr ganz recht.

Ein leises Klopfen an der Terrassentür riss sie aus ihren trübseligen Gedanken. Sie schoss auf. Kam jetzt zu ihrem Elend auch noch ein Einbrecher dazu? Wobei, seit wann klopften die denn an? Wahrscheinlich war es eher der Pizzabote, der wissen wollte, warum sie plötzlich nichts mehr bestellte? Vielleicht dachte er, sie sei gestorben oder so.

Doch vor der Terrassentür stand nicht der Pizzabote. Sondern er.

Sara blieb wie angewurzelt stehen. Hatte der Schlag auf den Kopf mehr angerichtet als angenommen? Litt sie jetzt schon unter Halluzinationen? Nein, da stand er wirklich, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Und in der Hand hielt er…einen Erste – Hilfe – Kasten, den er, wie zum Beweis seiner friedlichen Absichten hochhielt. Sie musste lachen und trat näher an die Scheibe. Seine Augen funkelten vor diebischem Vergnügen als er sich in einen eleganten Schneidersitz sinken liess. Sara tat es ihm gleich. Das Glücksgefühl in ihrem Magen blubberte und in ihrem Kopf tat auf einmal viel weniger weh. Konnte in einem Alptraum tatsächlich ein Traum wahr werden?

Er hauchte die Scheibe an. Erik, schrieb er mit dem Finger.

Sara antwortete sie.

Dann legte sie ihre Hand aufs Glas.

Und als er seine dagegenhielt, fühlte es sich fast so schön an, wie ein Kuss.

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