Wie uns unsere Wahrnehmung zuweilen einen Streich spielt
Vor einigen Tagen ist meine Brille zu Boden gefallen, härter als zuvor, und nun trägt sie ein feines Merkmal im linken Brillenglas, so unscheinbar, dass man es nur beim Putzen der Brillengläser und in bestimmten Lichtverhältnissen überhaupt sehen kann. Trotzdem muss dieser kleine Schaden ja nun eigentlich in allen Bildern enthalten sein, die durch die Brille auf meine Netzhaut treffen, weiterverarbeitet werden und dann in mein Bewusstsein gelangen. Ich merke nichts davon, der Schaden wird kaschiert, mein Bild hat keinen Fehler.
Ähnliches erlebe ich, wenn die Brille stark verschmutzt ist. Zu Beginn, als ich sie neu trug, konnte ich das kaum ertragen. Das würde immer so bleiben, so war ich überzeugt. Doch natürlich habe ich mittlerweile oft überrascht festgestellt, durch wie viel Staub ich wieder blickte. Meinem Gehirn ist es gelungen, den Bildern das „Wesentliche“ zu entnehmen, das sich hinter oder vor diesen Gläsern abspielte und das „Rauschen“, das immer da war, einfach auszublenden. „Shifting Baselines“ nennen Psychologen dieses Phänomen, wenn sich eine Veränderung hin zu einem ungewollten Zustand nur langsam genug vollzieht. Wir gewöhnen uns immer wieder an das neue „Normal“ und merken gar nicht, wie stark es bereits vom ursprünglichen oder uns genehmen Zustand abweicht.
Wenn es meinem Gehirn also selbst bei so offensichtlichen Dingen gelingt, durch Filter meine Wahrnehmung zu beeinflussen, wie stark ist dieser Effekt dann im Verborgenen?
Ich erinnere mich an ein Video, das uns unser damaliger Physiklehrer am Gymnasium zeigte. Wir erhielten vorher die Aufgabe, die Bälle, die durch das Bild wirbelten, zu zählen. Anschliessend fragte uns der Lehrer, wer nun den Gorilla bemerkt hätte. Wir schauten uns bloss verblüfft an, niemandem war aufgefallen, dass sich mitten durch die wirbelnden Bälle ein Gorilla (natürlich ein Mensch im Gorillakostüm) bewegt hatte.
Wir sehen oft ziemlich genau das, was wir zu sehen erwarten, was uns wiederum davon abhält, zu sehen, was wirklich ist.
Was ist denn wirklich?
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