Aus der Schule geplaudert

Vom Umgang mit Fehlern

By Christoph Salm

Die ersten Schuljahre erlebte ich in den 60-ziger Jahren in Niederönz, einem damals kleinen, beschaulichen Dorf des Oberaargaus. Landwirtschaftsbetriebe und  Einfamilienhäuser mit grosszügigen Grundstücken auf denen Gemüse, Beeren und Obst angepflanzt sowie mancherorts Kaninchen gehalten wurden, prägten das Ortsbild. Die wenigsten Quartierstrassen waren asphaltiert. Der Milchmann Herr Ruchti bediente seine Kundschaft  mit Velo und Anhänger, als Zughilfe diente ein kräftiger Berner Sennenhund. Auch der Posthalter Herr Schneeberger wurde auf den täglichen Touren von seinem Hund begleitet. Seine  Vorliebe galt den Deutschen Schäferhunden. Sie hiessen jeweils Astor und dienten als Begleiter und Wächter, denn es war damals üblich, dass der Pöstler nicht nur Briefe verteilte und Pakete schleppte, sondern auch Bargeld z. Bsp. die AHV aushändigte. Unsere Familie wohnte in einem kleinen Mehrfamilienhaus, dieses gehörte wie  drei weitere, leicht despektierlich als Ruchti-Blöcke bezeichnete Miethäuser, der Familie des umtriebigen Milchmannes. Im Dorf gab es auch einige Gewerbebetriebe. In Erinnerung bleibt mir die Gerberei Minder, die rohe Tierhäute zu Leder verarbeitete. Die bei der Verarbeitung angefallenen  Tierhaare wurden auf einem grossen Vorplatz getrocknet und führten zu starken Geruchsimmissionen. Die Abwässer flossen wohl zu einem erheblichen Teil in die nahe Önz; jedenfalls färbte sich deren Wasser mit einer gewissen Regelmässigkeit schauerlich rot. Auch dies gehörte neben dem ländlichen Idyll zur Kulisse meiner frühen Jugend. In Niederönz verbrachte ich aber eine glückliche und unbeschwerte Schulzeit. Dennoch war  sie  nicht  ganz frei  von sporadischen Aufregungen und den damit verbundenen kindlichen Sorgen. In der 3. Primarklasse erlebte ich zusammen mit meinen Klassenkameraden*innen eine sehr  strenge Lehrerin. Sie hiess Käthe Brack (Name geändert), war ca. 40-jährig, von schlanker Statur, mit Jupe, Bluse und Schürze stets korrekt gekleidet, die Haare züchtig zu einem Huppi geknotet, randlose Brille, wohnhaft in einer Lehrerwohnung direkt neben unserem Schulzimmer im ersten Stock des alten Schulhauses. Wenn wir  Schüler*innen am Morgen pünktlich an den Pulten sassen, lief ein standardisiertes Morgenritual ab. Fräulein Brack kontrollierte die Sauberkeit unserer Hände, insbesondere den korrekten Schnitt der Fingernägel, und das Vorhandensein eines sauberen Taschentuches. Nach einem Morgengebet sangen wir ein Lied, häufig ebenfalls mit einer Prise Andacht.  Damit der Unterricht nicht durch Unruhe in der Klasse gestört wurde, platzierte die Lehrerin konsequent Knaben neben Mädchen.  Überzählige Buben mussten einzeln an einem 2-er-Pult sitzen.  Allerdings waren sie meistens froh, nicht neben einem Mädchen sitzen zu müssen.  Disziplin und Gehorsam hatten in diesem Schuljahr hohe Priorität, daneben bot uns Fräulein Brack durchaus interessanten, gehaltvollen und engagierten Unterricht. In guter Erinnerung bleibt mir die Heimatkunde. In diesem Fach lernten wir viel über das damals noch vorwiegend ländliche Leben. Die Tiere auf den Bauernhöfen, der Landbau und die bäuerliche Lebensart interessierten mich sehr. Dieser Unterricht hinterliess bei mir vielleicht sogar eine gewisse Prägung. Gerne hätte ich auf einem Bauernhof gelebt. Ich träumte davon, später mal Bauer mit einem grossen Hof und vielen Tieren zu werden. Dieser Berufstraum wandelte sich im Lauf der Jahre noch etwas und führte mich, inspiriert von Bernhard Grzimek, Heini Hediger und Jane Goodall, via Zoologie schlussendlich zur Tiermedizin.

Fräulein Brack forderte viel von uns. Wer erfüllte, konnte durchaus mit Zuwendung, Lob und gewissen Privilegien rechnen.  Schwieriger war es für diejenigen, die die Vorgaben nicht immer erfüllten. Scheitern wurde bestraft. Das Strafmass reichte von  Schimpfen über Strublis bis zu mehr oder weniger saftigen Ohrfeigen. Der Tarif war allen bekannt.  Ein Beispiel aus dem Schulalltag: Abschreiben von der Wandtafel. Es galt dabei, einen Text fehlerfrei und ordentlich abzuschreiben.  Bei einem Verschreiber  ging man zur Lehrerin, um den Fehler zu korrigieren. Es war eben so, dass nur Fräulein Brack einen Radiergummi und damit das Recht zum Gummele hatte. Pro Lektion konnten wir uns zwei Fehler leisten, d.h. zweimal gratis gummele. Beim dritten Fehler gab’s Strublis. Wer den Fehler mit einem gestalterischen Trick korrigieren, schulsprachlich flicken und damit die Lehrerin täuschen wollte, bekam bereits beim ersten Mal das gröbere Strafmass zu spüren. Soviel zu den doch schon einige Jahre zurückliegenden Erfahrungen als 3.-Klässler und die seinerzeit angewandten Erziehungsmethoden. Ich blieb ja ziemlich verschont und habe keine nachhaltigen Schäden zu beklagen. Auch bleibt mir Fräulein Brack nicht als Täterin in Erinnerung. Ich vermute, dass sie aus einer Mischung von veralteter Lehrmethode, Überforderung und etwas unkontrollierten Impulsen handelte.

Als ich kürzlich von den „fuckup-nights“ (www.fuckupnights.com) hörte, kam die Erinnerung an die strenge Lehrerin und den damaligen Umgang mit den Verschreibern  wieder hoch. Die Angst, Fehler zu machen oder gar zu scheitern, wird heute auch bei Jungunternehmer*innen offensiv thematisiert. Fehler erkennen, analysieren und aus ihnen lernen wird an den sogenannten „fuckup nights“ geübt. “Mit Fehlern zum Erfolg“ ist der Slogan dieser Podien. Unternehmer*innen, die mit Projekten Misserfolge erlitten, berichten freimütig über diese Erfahrungen. Scheitern, auch im grösseren Stil, soll damit nicht als anstössig oder gar als Tabuthema empfunden werden. Im Gegenteil eher als notwendige und lehrreiche Erfahrung, die auf dem weiteren Berufsweg  zum Erfolg führen soll. Für die Sprecher*innen an diesen Veranstaltungen sind diese Events auch eine Art Katharsis (Reinigung) und fürs Publikum von hohem Wert für eigene unternehmerische Projekte.Ich frage mich nun, ob der eingangs kolportierte schulmeisterliche Drill bei mir und meinen Klassenkameraden*innen nicht doch Spuren hinterlassen hat. Vielleicht hätte uns Fräulein Brack doch Radiergummi-Kompetenz  zugestehen sollen. Sie hätte uns damit die Möglichkeit gegeben, die erkannten Fehler selbstständig zu korrigieren und die Texte ohne Angst vor Strafen von der Wandtafel abzuschreiben. Das  Erkennen und damit eingestehen der eigenen Fehler ist wohl auch die Voraussetzung, mit Fehlern der andern umzugehen und damit Grundlage einer guten Fehlerkultur.

Ich schliesse meinen Rückblick in die Schulzeit mit einer Erkenntnis der US-Basketball-Legende Michael Jordan:  "Ich habe in meiner Karriere über 9.000 Würfe verfehlt. Ich habe fast 300 Spiele verloren. 26 mal wurde mir der entscheidende Wurf anvertraut; und ich habe nicht getroffen. Ich bin wieder und wieder in meinem Leben gescheitert – und das ist der Grund für meinen Erfolg."

 

 

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