Graffitis - ein urbanes Phänomen

Kunst oder Vandalismus?

By Christoph Salm

Da erhielt doch unlängst der als Sprayer von Zürich bekannt gewordene Harald Nägeli den mit Fr. 50 000.- dotierten Kunstpreis der Stadt Zürich. Gleichzeitig lief eine Anzeige des Kantons Zürich gegen den inzwischen 80-jährigen Aktivisten. Grund dafür waren neueste Werke an kantonalen Gebäuden, die dem unermüdlichen Senior zugeschrieben werden. Das Phänomen der Graffiti ist v.a aus dem urbanen Umfeld nicht mehr wegzudenken. Handelt es sich dabei um reine Sachbeschädigung, Vandalismus oder ist diese Form des Ausdrucks als Kunst zu bezeichnen? Zugegeben, ich habe die Sprayereien seit Jahrzehnten relativ unaufgeregt miterlebt. Der Ärger hielt sich in Grenzen, allmählich gewöhnte ich mich an das eher urbane Phänomen. Anlässlich eines Besuches der spanischen Küstenstadt Valencia hat mich der Bummel durchs trendige Altstadtviertel El Carmen sehr beeindruckt. Die bunte, äusserst vielfältige Strassenkunst verleiht den eher eintönigen, z. T. vom Zerfall bedrohten Gebäuden einen ganz besonderen und neuen Glanz. Als bekannt wurde, dass die Stadt Zürich „ihren“ Sprayer mit dem Kunstpreis auszeichnet, ging ich dem Phänomen Graffiti mit einer kurzen Internet-Recherche nach. Die von mir bisher wenig beachtete Szene hat eine lange Geschichte. Erste Graffitis wurden bereits zur Zeit der alten Ägypter in Form von gekratzten Inschriften in Tempeln, Gräbern, an Felsen und Statuen angebracht. Auch die Römer, die Mayas, Wikinger und diverse andere Kulturen pflegten diese Form der Kommunikation. Anfangs 20. Jahrhundert hat Mao Tse-tung, der spätere chinesische Parteiführer und Diktator in den Waschräumen seiner Schule eine Schmähschrift mit 4000 Zeichen über seine Lehrer und die chinesische Gesellschaft angebracht. Um 1930 tauchten in den Vereinigten Staaten Graffitis auf, die von verschiedenen Gangs angebracht wurden. Politische Statements von Widerstandbewegungen wurden während des 2. Weltkrieges an Hauswände gemalt. In München tauchten 1943 an 30 Fassaden Schriftzüge mit dem Inhalt „Massenmörder Hitler“ und durchgestrichene Hakenkreuze auf. Rund 20 Jahre später bediente sich die Studentenbewegung dieser Protestmethode und es erschienen vermehrt politische Graffitis. Wegbereiter der urbanen Graffitis war aber ein griechischer Laufbursche in New York. Auf seinen Touren begann der damals 17 -Jährige seine Marke Taki 183 an Wände zu kritzeln. Die Motivation für sein Tun war simple: Aufmerksamkeit und Bekanntheit erreichen. Taki 183 löste noch bevor über ihn ein Artikel in der „New York Times“ (21.7.1971) erschien, eine wahre Kettenreaktion aus. Ein neuer Trend war geboren. Dieser veränderte das Bild der Städte nachhaltig. Mit Filzstiften, Pinseln und später mit Spraydosen wurden fortan Plätze, Gebäude, Mauern, U-Bahnen und Züge verschmiert, verziert, geschmückt oder neutral formuliert, besprayt. Der Trend setzte sich fort und erreichte bald auch Europa. Peter-Ernst Eiffe gilt als erster Graffiti- Künstler Deutschland. Seine Graffitis verbreitete er in grösserem Stil in Hamburg. Der wohl bekannteste Exponent dieser Szene ist aber der bereits erwähnte Schweizer Harald Nägeli. Seit 1977 sprayt er seine Strichmännchen als Protest gegen die monotonen Stadtbilder auf Wände in diversen Großstädten. Wegen diesen Aktionen wurde Nägeli 1981 zu neun Monaten Haft und Fr. 206 000.- Busse verurteilt. Die Strafe musste er 1984 absitzen. Die Beziehung zur Stadt Zürich blieb schwierig. Nägeli verliess die Stadt und lebte fortan in Düsseldorf im selbst gewählten Exil. Als die Stadt Zürich 2004 mehrere seiner Werke schützen resp. restaurieren liess, erfuhr er Rehabilitation. 2019 kehrte Nägeli in seine Heimatstadt zurück. Kürzlich ehrte ihn die Stadt Zürich mit dem Kunstpreis 2020. „Der Kunstpreis der Stadt Zürich würdigt ein eigenständiges künstlerisches Werk, das von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Kunst- und Kulturgeschichte zeugt.“ (Medienmitteilung Präsidialamt der Stadt Zürich 9.7.2020).

Das in den letzten Jahrzehnten aufgetretene Phänomen der Graffiti-Strassenkunst begann in den 70-ziger Jahren mit einfachen Markierungen, meist Namen und Zahl, sorgte für Ärger, galt als reine Sachbeschädigung, Schmiererei und Vandalismus und etablierte sich mit der Zeit als eine Form urbaner Kultur. Bald meldete sich auch die Kunstszene zu Wort, die kontroverse Diskussion war damit lanciert. Die soziologische und kunsthistorische Forschung beschäftigte sich in der Vergangenheit ebenfalls mit der omnipräsenten Strassenkunst. So ergab sich eine gewisse Systematik in der Betrachtung der Szene. Im deutschen Sprachraum haben sich übrigens die Bezeichnungen das Graffiti, respektive die Graffitis etabliert. Die Definition ist gem. Wikipedia „Sammelbegriff für thematisch und gestalterisch unterschiedliche sichtbare Elemente, z. B. Bilder, Schriftzüge oder Zeichen, die mit verschiedenen Techniken auf Oberflächen im privaten oder öffentlichen Raum, meist unter Pseudonym erstellt wurden“. In einer Studie der Universität Potsdam (Rheinberg/ Manig 2003) wurden die Motivation zum Graffiti-Sprayen in einer psychologischen Studie untersucht. Dabei wurden folgende 7 Anreizdimensionen eruiert: Expertise, positive Emotionen (Flow), Kreativität, Gruppengefühl, Ruhm, Lebenssinn, Sensation (Grenzerfahrung). Während beim illegalen Sprayen eher die emotionale Komponente im Vordergrund steht, ist Ruhm und Anerkennung für die legalen Sprayer von Bedeutung. Es haben sich erstaunlich viele Graffiti-Stile und Techniken sowie ein englisch geprägtes Szenen-Vokabular entwickelt. Die wichtigsten Styles sind im Folgenden aufgeführt:

Style-Writing: Dies ist die häufigste Form. Dabei bildet die Schrift das Basiselement. Die Verbreitung des Namens resp. des Pseudonyms und deren möglichst kunstvolle Gestaltung und die Erlangung einer gewissen Bekanntheit stehen dabei im Vordergrund. Das Writing ist ein Element des Hip-Hop, einer urbanen Jugendkultur. Vermutlich eine Art Dekoration.                                                                    Streetart: Beinhaltet verschiedene Formen von Kunst im öffentlichen Raum. Beim nicht writing- bezogenen Graffiti sind die Motive meist bildlich. Banksy, die Ikone der Streetart bezeichnete sie als „kostenlose Kunst für jedermann, die zum Nachdenken anregt“.
Diverse weitere Arten von Graffitis sind: Scratching, Etching, politische Graffiti, Stencil (Schablonen), Gang-Graffiti bis zu Baum- oder Klograffitis.

Den Städten entsteht durch die unauthorisierte Anbringung jeglicher Formen von Graffitis beträchtlicher Aufwand für die Reinigung und den Schutz exponierter Oberflächen. Die Stadt Bern bezahlte für die Entfernung von illegalen Graffitis in den Jahren 2013 bis 2017 rund
Fr. 370 000.-. Diese Reinigungs- und Wiederstellungsarbeiten werden mittlerweile von diversen Firmen angeboten haben sich wohl zu einem lohnenden Geschäftszweig entwickelt. Das Hochbauamt der Stadt Zürich informiert Geschädigte und potentielle AktivistInnen zum Thema Graffiti. Den Geschädigten wird Hilfe angeboten, SprayerInnen werden über die Konsequenzen ihres Tuns informiert, Eltern werden gebeten, ihren Beitrag zur Verhinderung illegalen Handelns ihrer Kinder zu leisten. Einerseits haben wir den Ärger und die Kosten als Folge der Sachbeschädigungen. Andererseits erlangen Graffiti-KunstlerInnen mit ihren Werken durchaus Aufmerksamkeit und Bewunderung. Einige wurden zu Ikonen. Die Graffiti-Kunst hat nun sogar die Schulstuben erreicht. Die Pädagogische Hochschule Bern bietet auf ihrer Homepage Unterrichtsmaterial für Graffiti und Streetart an. Einige Beispiele von SchülerInnen zeigen das kreative Potential der Jugendlichen. Diese Kunstform ist offensichtlich aus der Dunkelheit der Nacht aufgetaucht und wird heute legal und auch kommerziell angeboten.

Abschließenden komme ich zur wohl etwas laienhaften Beurteilung des Phänomens. Graffitis - Kunst oder Vandalismus? Kunst hat etwas mit Können zu tun. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Wenn jemand etwas ausserordentlich gut kann, ein Meister seines Fachs ist, so kann er zum Künstler werden (Wikipedia, de.quora.com). Nehmen wir diese kurze und einfache Definition von Kunst, so wird klar, dass viele „Verzierungen“ der Wände kaum als Kunst, bestenfalls als Dekorationen bezeichnet werden können. Da diese meist auch illegal angebracht wurden, handelt es sich hierbei wohl um Sachbeschädigung. Diese ist grundsätzlich zu verurteilen und die Urheberschaft ist zur Verantwortung zu ziehen. Graffitis und Streetart sind aber durchaus auch in einer kunstvollen Form anzutreffen und haben somit das Potential zur optischen Bereicherung des Stadtbildes. Aber auch Kunstwerke können nicht unauthorisiert an geeignete Objekte angebracht werden. Diverse Städte bieten der Szene mittlerweile Freiflächen für ihren kreativen Ausdruck an. Dort können die Werke legal, bei gutem Licht und gefahrlos angebracht werden. Vermutlich geht damit eine Portion Flow verloren. Ob nun für aussergewöhnliche Künstler wie Banksy und Harald Nägeli oder für wichtige politische Anliegen Sonderrechte geltend gemacht werden können, ist eine offene Frage. Es handelt sich zumindest um eine gewaltlose Form des Protestes. Somit können wir uns ein begrenztes Mass an Toleranz durchaus leisten.

CS 8.2020

 

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