Jedes Läbe zellt

Gedanken zu "black lives matter"

By Christoph Salm

Beeindruckt von den Ereignissen in den USA erinnere ich mich an eine Streetfotografie aus Valencia im Frühjahr 2019. Sie zeigt im Quartier El Carmen ein Paar,  das auf einer grossen Schaukel vergnügt den sonnigen Frühlingstag geniesst. Die weisse Frau und der dunkelhäutige Mann scheinen unbeschwert, ja fast übermütig auf dem wohl für Kinder vorgesehenen Spielgerät ihre Seelen baumeln zu lassen oder jugendsprachlich formuliert, zu chillen. Dieses friedliche Miteinander ergibt ein idyllisches Bild. Ein starker Kontrast zum eingangs angesprochenen  Thema.  „Black lives matter“ heisst der Slogan der Stunde. Ein latentes Problem wird durch die unverständliche Gewalttat eines US-Polizisten und die unrühmliche Reaktion im Weissen Haus hoch aktuell. Die Empörung in der amerikanischen Gesellschaft und weit darüber hinaus ist gross und durchaus verständlich. Die in verschiedenen Medien publizierten Berichte von Betroffenen über den im Alltag erlebten Rassismus sind bedenklich. „Die Amerikaner stammen von Eroberern und Eroberten ab, von Menschen, die als Sklaven gehalten wurden und von Menschen, die Sklaven hielten, von der Union und von der Konföderation, von Einwanderern und von Menschen, die dafür gekämpft haben, die Einwanderung zu stoppen“ (Jill Lepore, Diese Wahrheiten, 2018). Das amerikanische Experiment, einer so heterogenen Bevölkerung „politische Gleichheit, naturgegebene Rechte und Volkssouveränität“ (Thomas Jefferson) zu geben, bleibt eine grosse Herausforderung. Die Geschichte der vereinigten Staaten von der Entdeckung durch spanische Seefahrer um 1500 n. Chr. bis zum heutigen Tag ist belastet von den Schwierigkeiten des Zusammenlebens der verschiedenen Ethnien. Dabei ist die Situation der afroamerikanischen Bevölkerung wohl nach wie vor unbefriedigend und von zentraler Bedeutung und wie die momentanen politischen Unruhen in den USA zeigen, dringend zu verbessern. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir die etwas allgemein formulierte Frage: Wie steht es bei uns? Auch unsere Bevölkerung ist sehr heterogen und ethnisch gemischt. Wie gehen wir mit dieser Situation im Alltag um?

Es gibt nicht nur Schwarze und Weisse. Es gibt Einheimische, Secondos, Immigranten, es gibt Christen,  Juden, Muslime, Junge und Alte, Linke und Rechte, Männer und Frauen, Homo-, Bi- und Heterosexuelle und viele andere Herkünfte, Identitäten oder Lebensformen. Auch bei uns gibt es latent Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Vorurteile, Benachteiligungen und auch Privilegien, kollektive Schuldzuweisungen u.a. sind alltäglich. Betroffene berichten von offensichtlichen oder zumindest subtilen Rassismus-Erfahrungen. Wir neigen dazu, vom Individuum aufs Kollektiv zu schliessen und damit unser Urteil, unsere Abneigung oder eben Zuneigung zu pauschalisieren.

Zurück ins Quartier El Carmen. Wie das vermutlich verliebte, ethnisch gemischt schaukelnde Paar sitzen wir alle in der selben Schaukel.  „Zäme geiht’s besser“ ist eine alte Weisheit. Vielleicht haben uns die vergangenen Wochen gezeigt, wie wichtig Gemeinschaft ist. Dank kollektiven Bemühungen konnten wir der Bedrohung durch die COVID-19-Pandemie entgegentreten und zumindest bis jetzt einen schlimmeren Verlauf in unserem Land abwenden. Es galt „jedes Läbe zellt“,  eben auch die Leben der sog. Vulnerablen. Es macht im Moment den Anschein, dass sich diese Rücksichtnahme gelohnt hat. Die anstehenden, vielschichtigen Probleme unserer Gesellschaft, der Weltbevölkerung und der Oekosysteme unseres Planeten sind wohl nur gemeinsam und mit sehr viel gutem Willen zu lösen. Wir haben keine andere Wahl.

CS/6.2020

 

black and white

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.
CAPTCHA
11 + 8 =
Bitte diese einfache mathematische Aufgabe lösen und das Ergebnis eingeben. Zum Beispiel, für die Aufgabe 1+3 eine 4 eingeben.
Diese Frage dient dazu, sicherzustellen, dass das Formular von einem Menschen und nicht durch einen automatischen Spamvskript ausgefüllt wird.